Medikamente gratis?

Oder: die Apotheke im Spannungsfeld zwischen Gesundheitssystem und Wirtschaft.

Es wird für eine Kundin ein Rezept in die Apotheke gefaxt. Ich suche die Medikamente darauf heraus: Schlafmittel, ein Blutdruckmedikament, Magenmittel, Beruhigungsmittel … als ich die Krankenkasse kontrolliere, kommt die Meldung: „Krankenkassenkarte gesperrt. Keine Deckung.“
Weil es die XY Krankenkasse ist, bitte ich die Pharmaassistentin doch rasch telefonisch nachzufragen, denn die XY hatte in letzter Zeit Probleme mit der Internetabfrage.
„Nein,“ sagt die PADas ist so, da muss ich gar nicht anfragen.“

„Wieso?“ frage ich – worauf sie ein paar Rezepte aus dem Fach „Krankenkasse zu kontrollieren“ zieht: „Diese Kundin hat im Februar schon Medikamente auf Rezept bezogen und die Krankenkasse weigert sich, sie zu übernehmen, weil sie ihre Prämien nicht zahlt.“
Es handelt sich bisher um Medikamente im Wert von 600 Franken (!)– und mit dem neuen Rezept kämen noch mal 400 Franken dazu.
Ich rufe also der Patientin an und erkläre ihr, dass sie die Rezepte bezahlen muss und darum beim abholen Geld mitnehmen soll.

Es kommt die Tochter und will das Rezept einlösen.
Sie sagt: „Ich habe nicht genug Geld, kann ich es nicht auf Rechnung nehmen?“
Ich erkläre ihr, dass schon 600 Franken von vorher offen sind und dass ich das darum nicht mache.
Sie: Was soll ich denn machen? Die Mutter braucht die Medikamente!“
Ich biete ihr an, die Packungen, die sie braucht einzeln dann zu beziehen, wann sie sie braucht, dann verteilt sich das auch etwas.
Offenbar hat sie aber nicht mal Geld für die eine Packung – ich biete ihr an halt kleine Packungen zu nehmen – das will sie auch nicht. Ich biete an, mit dem Arzt Kontakt aufzunehmen – abgelehnt.
„Im übrigen“ sagt sie, „ist es ihre Pflicht als Medizinalperson, mir die Medikamente, die ich brauche auch ohne Bezahlung abzugeben, das ist sonst eine Verletzung der Sorgfaltspflicht.“ – Sie wisse das, sie studiere Jura!

Hmmmm. Doppelhmmmm.

Ich soll ihr also alle ihre Medikamente gratis geben? Wenn das wirklich so wäre, könnte ja keine Apotheke mehr überleben. Wie will ich denn da meinen Mitarbeitern die Löhne zahlen? Oder die Miete? Oder die Medikamente überhaupt?
Ich sage ihr, dass ich für die korrekte Medikamentenabgabe und Beratung zuständig bin, sie aber für ihre finanzielle Situation. Wenn sie die Prämien nicht mehr zahlen kann und allgemein so Probleme hat, dass sie sich nicht einmal eine kleine Packung des Medikaments leisten kann, kann sie sich an den Sozialdienst der Gemeinde wenden, ich könne ihr dabei helfen.
Will sie auch nicht. Sie geht.

Es beschäftigt mich aber dann doch, darum mache ich ein paar Telefone.
Das ist das Ergebnis:
Ich bin tatsächlich verpflichtet in Notfällen Medikamente auch mal ohne Bezahlung abzugeben … jedenfalls eine kleine Packung, einmalig.
Das macht auch Sinn

Nur: was ist genau ein Notfall?

Definition: Ein Notfall ist ein akut aufgetretener, potenziell lebensbedrohlicher Zustand.
Also z.B. Glucagon für eine Unterzuckerung beim Diabetiker
Bronchodilatator beim Asthmaanfall
Antiallergika bei akutem anaphylaktischem Schock
Bluthochdruck Medikamente bei akuter hypertensiver Krise (aber dauernder hoher Blutdruck fällt da nicht drunter: ist weder akut noch lebensgefährlich)
Nitroglycerin bei Herzinfarkt
Antidote bei Vergiftungen
Konakion bei akuter Blutung unter Marcoumar

Die Medikamente auf ihrem Rezept fallen da nicht drunter: Schlafmittel, Mittel gegen zuviel Magensäure, Blutdruckmedikament, Beruhigungsmittel. Und Geldmangel ist auch kein medizinischer Notfall.

Bei der Kundin hatte ich stark den Eindruck sie denkt sie habe grundsätzlich einen Anspruch auf alle Medikamente gratis.
So funktioniert es aber nicht!

Inzwischen konnten wir die Situation zusammen mit dem Sozialamt und Krankenkasse lösen – sie bekommt wieder ihre Medikamente und wir unsere Entlöhnung.

5 Kommentare zu „Medikamente gratis?

  1. Wow, ihr habt Onlinezugriff auf den Versichertenstatus in der Schweiz? Da ist der „große Bruder“ ja schon weiter als bei uns. Aber wenn die elektronische Gesundheitskarte irgendwann wirklich da ist, soll das hier ja auch so werden.

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  2. Bei allem, was ich hier über diesen Fall lese, kann einem doch richtig übel werden.

    Wenn man kein Geld hat, bekommt man keine Medikamente.

    So eine Person hat eine schlechte Lebensqualität (muss die Brille, den Zahnersatz doch auch irgendwie entgelten..)–hat vielleicht Kinder in die Welt gesetzt, auf vieles verzichtet und Steuerzahler „produziert“.

    Ich darf diesen Gedanken nicht wirklich zu Ende denken.

    Wenn ich von dem Erbarmen oder der Hilfsbereitschaft anderer Menschen abhängig ist, betteln muss, ist das nicht bitter? Entwürdigend? Zerbrechend?

    Man BRAUCHT etwas, auf das man lieber verzichten möchte und muss sich auch noch demütigen lassen, weil man kein Geld hat.

    Und warum sind solche Medikamente denn so entsetzlich teuer?

    Bei allem Verständnis für die Situation der Apotheke:

    : ( — Ist das die Summe eines Lebens? Dass man zum Ende dieses Lebens solche eine Demütigung ertragen oder sogar noch das wenige Geld, was man zum Überleben braucht, für Pillen ausgeben muss?

    Manche dieser Menschen werden zum Angstbeisser, werden an den Pranger gestellt und müssen ihren Reststolz auf den Müll werfen. Mich machen solche Informationen wirklich traurig.

    Ich wünsche allen armen Menschen, dass sie solcherlei nicht ertragen müssen und wenigstens ihre Würde hochhalten können – oder glaubt irgend jemand, diese armen Leute würden sowas mit ABSICHT machen?

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  3. Hallo Hevora: die Situation für die Frau ist sicher nicht einfach – allerdings möchte ich dazu noch ein paar Sachen zu bedenken geben: Sie war nie selbst in der Apotheke, sondern hat immer ihre Tochter vorgeschickt (die Jura studiert) – und die ist sehr fordernd rübergekommen, nicht bettelnd.
    Ob sie lieber auf ihre Art Medikamente verzichten würde weiss ich nicht – bis jetzt reizt sie jedenfalls jedes Rezept bis zum Anschlag aus.
    Unser Gesundheitssystem ist nicht gratis (ich glaube das ist keines) – und ich und meine Mitarbeiter arbeiten (hart) und möchten auch entlöhnt werden- und es gibt Mittel und Wege auch für Sie – wie ich aufgezeigt habe. Der Sozialdienst und eine Erleichterung bei den Krankenkassenprämien sind eine davon – aber: man muss sich halt darum kümmern.
    Und warum die Medikamente so teuer sind: da fragt man am besten die Pharmafirmen. Das hat unter anderem mit der sehr teuren Entwicklung und Forschung zu tun – das kostet Millionen und mindestens 10 Jahre bis wieder ein neues auf dem Markt ist.
    Übrigens: es gibt Generika. Und wenn sich jemand, der schon wenig Geld hat auch noch weigert das zu versuchen – sinkt bei mir das Verständnis auch ein bisschen. Das ist, wie wenn man darauf beharrt beim Globus einzukaufen, statt beim Migros (oder beim Aldi).
    Jedenfalls: inzwischen kommt (auch wieder) die Gesellschaft für sie und ihre Medikamente auf.
    Dazu könnte ich auch ein paar Sachen sagen, aber das lasse ich lieber,

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  4. Hallo Pharmama,

    ich habe geschrieben: „Bei allem Verständnis für die Situation der Apotheke.“

    Mir geht es um das Grundsätzliche. Ich unterstelle, dass diese Frau den Rest ihrer Würde nicht auf den Markt tragen wollte und sich so geschämt hat,dass sie eine andere Person vorgeschickt hat.

    Ich habe in meinem Leben mehr als einmal erlebt, daß Menschen, die an oder unter der Armutsgrenze leben müssen, dermaßen frech geworden sind, dass das Gegenüber – sagen wir – verständnislos reagiert hat.

    Das ist ein Zeichen äußerster Not und Scham gewesen, weil sie einfach nicht betteln wollten, aber es dennoch tun mussten. Frechheit hat hier wohl eine Art Schutzfunktion.

    Einmal habe ich einen randalierenden alten Mann bei uns in der Hauptpost angetroffen, der in den Räumen laut und heftig herumtobte. Er war ca. 80 Jahre alt, ungepflegt, stinkend, pöbelnd.

    Er wollte unbedingt, dass die Angestellen dort ihm eine Überweisung ausfüllen sollten, was diese in ihrer „Klugheit“ verweigerten und ihn stehen ließen. Es war sicher auch nicht ihre Aufgabe.

    Ich habe den pöbelnden Mann angesprochen und ihm seine Überweisung ausgefüllt. Plötzlich fing dieser „unverschämte“ Mann an zu weinen und erklärte mir, er sei so alt, dass er nicht mehr in der Lage sei, diese Formulare auszufüllen und brauche Hilfe. Auf Bitten habe wegen seines Äußeren niemand mehr reagiert und wenn er den Strom nicht zahle, würde man ihm ihn abdrehen. Er hatte sich aus Verzweiflung so verhalten.

    Manchen Menschen fällt es halt schwer, auch noch den Rest ihrer Würde aufgeben zu müssen, ich denke, wenn man seinen Geist für die Not und die Angst der anderen öffnen kann, dann hat man das eine oder andere Mal doch ein gutes Werk getan.

    Schön, daß Du der Frau geholfen hast – auf anderen Wegen. Wenn sie selber gegangen wäre, wäre sie sicher auf den einen oder anderen Bürokraten gestossen und hätte Demütigungen hinnehmen müssen. Das konnte ihre Seele wohl nicht mehr ertragen.

    Wenn an das eine oder andere Mal seinen EQ einschaltet, wird man sehen, dass sich das Gegenüber komplett verändert – und ich spreche hier nicht davon, dass man sich ausnutzen lässt.

    Liebe Grüße

    Hevora

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  5. Zumindest in Deutschland ist die rechtliche Situation eindeutig: Nothilfe setzt so ziemlich alles andere außer Kraft, ob es das Luftrecht oder die Gesundheitsgesetzgebung ist: Bei Lebensgefahr ist Hilfe obligatorisch, solange sich der Helfer dafür nicht selbst in Gefahr begeben muss. Finanzielle oder sonstige Schäden des Hilfeleistenden werden ersetzt (ich glaube vom Bund, musste mich aber noch nie so genau damit befassen).
    Allerdings sind die Fälle wohl selten eindeutig und wenn ein Allergiker mit letzter Kraft um einen Epipen bettelt bevor er im Schock zusammenbricht, wirst Du wohl auch kaum erstmal das Geld von ihm verlangen. Schwieriger ist die „Grauzone“ und da möchte ich weder wirtschaftlich noch pharmologisch in Deiner Haut stecken.
    Staatliche Hilfe anzunehmen ist nicht leicht, aber am Ende geht es auch um Miete und Lebensmittel, nicht nur um Medikamente. Sie zu beantragen und anzunehmen ist eine Sache, für viel wichtiger halte ich allerdings, ob sich derjenige dann darauf ausruht oder wenigstens versucht, wieder selbst für sich zu sorgen.

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