Umfall

Es ist Nachmittag, etwa 4 Uhr. In die Drogerie kommt eine ältere, reichlich dürr aussehende Frau mit einem kleinen Hund. Die Drogistin geht sie bedienen. Nach ein paar Minuten höre ich ein Krachen und Hilferufe.

Die ältere Kundin ist umgekippt – die direkt daneben stehende Drogistin konnte gerade noch verhindern, dass sie mit dem Kopf auf den Boden schlägt – sie bleibt liegen: bewusstlos.
Ich eile hin, bringe sie in Seitenlagerung und lasse die Sanität rufen. Die Kundin kommt derweil rasch wieder zu sich – allerdings ist sie sehr verwirrt und schwach, weshalb ich sie am Boden liegen lasse.

Pharmama: „Wissen Sie, was passiert ist?“

Frau: „Ich glaube, mir ist wieder schwarz vor den Augen geworden. Ja?“

Pharmama: „Passiert das öfter?“

Frau: „Naja, ich hatte ein paar Umfälle, aber das wird gleich wieder.“

Pharmama: „Wann haben sie das letzte Mal etwas gegessen?“

Frau: „Ach, ich esse nie etwas vor 5 Uhr.“

Pharmama: ?? „Das ist eine mögliche Ursache für ihr Problem: Unterzuckerung.“

Ich hole ein paar Traubenzucker, die ich ihr gebe.

„Sie sollten wirklich versuchen regelmässig etwas zu essen…“

Frau: „Nein, nein. Ich bin das so gewohnt, ich brauche das nicht.“

Pharmama: „Naja, offenbar braucht das aber ihr Körper, sonst würden sie nicht umfallen.“

Noch eine Idee kommt mir – ich nehme ihren Arm und kneife leicht die Haut. Die bleibt auch prompt stehen.

Hautfalten, die stehen bleiben, deuten auf eine starke Dehydrierung hin, weshalb ich ihr auch noch ein Glas Wasser bringe.

Frau: „Nein, nein! Das brauche ich nicht.“

Pharmama: „Doch – das brauchen sie – schauen sie mal hier – das ist ein deutliches Zeichen, dass sie viel zu wenig trinken. Hier. Schluckweise, ja?“

Die Sanitäter kommen und ich erkläre, was ich bisher gefunden habe. Unterzuckert und enorm dehydriert – sie ist immer noch ziemlich verwirrt und hat niemanden, der für sie schauen kann, weshalb die Sanitäter sie schliesslich mitnehmen.

Was uns mit einem Problem zurücklässt: Ihrem Hund. Den nehmen sie nämlich nicht mit.

Von uns kann auch keiner für ihn sorgen, ein Nachbar oder Bekannte hat sie uns nicht nennen können– am Schluss fragen wir bei der Polizei an. Die haben dann eine Lösung. Der Hund kommt zur Polizei in den Hundezwinger, bis sie wieder aus dem Spital zurückkommt.

Das ist schon ein grösseres Problem, viele ältere Menschen haben fast keine Bezugspersonen mehr und sind ziemlich isoliert. Dann essen sie nicht mehr regelmässig und trinken zu wenig – was Gesundheitsprobleme noch verstärkt. Der Hund hilft ihr vielleicht noch im Fall, dass sie mehr nach draussen geht – auf der anderen Seite  … was machen mit ihm, wenn man dann mal (überraschend) ins Spital muss?

10 Kommentare zu „Umfall

  1. Das ist auch meine große Angst, im Alter niemanden zu haben, keine Bezugsperson, niemanden, der mich wirklich kennt und schätzt und niemanden mehr, den ich kenne und liebe.
    Puh… So schön das Single Leben auch ist, keine Familie zu haben ist manchmal auch ganz schön doof.

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    1. Ich denke, davor haben noch einige Angst. Ich habe aber das Gefühl, dass das bei dir eher unbegründet ist – Du kommst als so offene und extrovertierte Person herüber, dass dir kaum die Freunde ausgehen werden :-)

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  2. Ja, das ist wirklich blöd, wenn man keinen mehr hat. Da kann es dann auch trotz guter Nachbarschaft (was leider auch nicht selbstverständlich ist) mal schnell eng werden für die älteren Herrschaften, wenn sie Hilfe benötigen.

    Wir hatten mal in der Bahn (im Hochsommer, als die Klimaanlage ausfiel) kostenfrei Getränke bekommen vom Schaffner, damit keiner umkippt. Eine ältere Dame wollte partout nichts nehmen, auch nicht, als der Schaffner darauf hinwies, dass dass Wasser schliesslich kostenfrei sei und es würde ihr guttun würde. Erst als eine andere Frau und ich mit der Dame sprachen, konnten wir sie überzeugen, was zu trinken. Sie meinte nämlich, solange sie keinen Durst habe, bräuchte sie auch nichts, aber das ist ja grad bei der Hitze im Sommer sehr gefährlich.

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  3. Wow, ich wüsste nicht, ob die Polizei in D den Hund „aufnehmen“ würde. Ich hätte da eher drauf getippt, dass der Hund ins Tierheim kommt.
    Das mit dem wenig_trinken kenne ich noch von meinen beiden Omas her. Manche Leute schlagen ja vor, in der Wohnung gefüllte Wassergläser zu verteilen und immer, wenn man an einem vorbei kommt, trinken. Keine Ahnung, ob das was hilft, habe keine entsprechende Informationen.

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  4. Das Problem mit der Dehydrierung kenne ich von meinem 93jährigen Vater. Bei dem müssen die Schwestern im Heim und ich auch ständig dahinter her sein, dass er genug trinkt. Allerdings weiß mein Vater wenigstens, dass er täglich 1,5 – 2 l mindestens reinkippen sollte.

    Ich hab‘ dagegen einmal eine ältere Dame betreut, die geradezu darauf stolz war, dass sie „nicht so eine Trinkerei“ habe. Die war regelmäßig total neben der Spur, weil total dehydriert, aber an die brachte noch nicht mal der Arzt dran, dass sie eben so und so viel Mineralwasser runtergluckern sollte. Als sie jung gewesen sei, habe man noch nicht so viel getrunken und überhaupt sei das eine „Unsitte“ der heutigen Jugend!

    Manchmal kann man echt nur den Kopf schütteln.

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  5. Ein kleine sprachliche Anmerkung:

    „Dehydriert“ würde bedeuten, daß der Dame Wasserstoff abging. ;)
    Aber sie war ja wohl eher dehydratiert oder meinetwegen auch exsikkiert.

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  6. @Don: Meines Wissens ist das Adjektiv zu „Dehydration“ tatsächlich auch „dehydriert“.

    Zum Hund, so einen ähnlichen Fall hatten, oder haben wir hier auch. Vor einiger Zeit ist das alte Hundchen einer alten Dame in der Nachbarschaft gestorben. Sie hat sich daraufhin einen „neuen“ aus dem Tierheim geholt, der aber auch schon neun Jahre alt war und die meiste Zeit seines Lebens im Tierheim verbracht hatte. Als junger Hund muss er irgendwie sehr schlecht behandelt worden sein. Nichts Genaues weiß man nicht, aber er ist *sehr* ängstlich und verbellt erst mal alles und jeden – Angriff ist die beste Verteidigung, das Kind auf dem Roller könnte ihm ja wehtun.

    Im letzten Sommer haben wir uns angewöhnt, Sonntags nachmittags einen längeren Waldspaziergang zu unternehmen. Da unsere Nachbarin schon da nicht mehr gut laufen konnte und wir zu den wenigen gehören, denen der Hund vertraute, haben wir angeboten, die Fellnase einfach mitzunehmen.

    Aus einem Spaziergang die Woche wurden dann vier Spaziergänge täglich, als unsere Nachbarin stürzte und vorerst gar nicht mehr mit dem Hund rauskonnte. Sollte ja nur für kurze Zeit sein. Allerdings stellte sich der Sturz mehr als Symptom als als „eigenes Problem“ heraus, neben anderen Problemen war sie auch ziemlich dehydriert. Eines Nachts gegen zwei Uhr morgen ist sie wieder gestürzt, und diesmal kam sie direkt ins Krankenhaus. Was macht man jetzt mit dem Hund? Wir haben ihn dann erst mal „komplett“ zu uns genommen, sollte ja nur so lange sein, bis unsere Nachbarin wieder aus dem Krankenhaus kommt.

    Der Spitalaufenthalt und die anschließende Reha zogen sich dann hin. Nach einigen Wochen kam unsere Nachbarin wieder nach Hause, ist seither aber auf einen Rollator angewiesen. Also keine Chance, den Hund selbst zu versorgen oder gar mit ihm spazierenzugehen – nicht zuletzt, weil der Kleine trotz seiner bald zehn Jahre ein ziemlicher Springinsfeld ist.

    Tja, und so haben wir jetzt de facto einen Hund. Das „eigentliche“ Frauchen bezahlt zwar Futter und so weiter, und er kommt vormittags und nachmittags noch jeweils für ein, zwei Stunden zu ihr, aber ansonsten ist es im Prinzip unser Hund. Das bedeutet zwar einiges an Arbeit, aber wir haben den Kleinen sehr lieb, und er hat sich seither auch enorm gemacht. Was man aus dem Hund alles hätte machen können, wenn man ihn von Beginn an gefördert hätte…

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