Lieferengpässe – wenn Medikamente Mangelware werden

Langsam scheint das Thema Lieferschwierigkeiten auch in den Medien anzukommen. Es ist nichts bahnbrechend neues – und im Medikamentenbereich warnen diverse Leute schon seit Jahren permanent deswegen. Es wird nur aktuell grad wieder schlimmer. Einiges schlimmer!

Die Nicht-Lieferbar-Liste unserer Apotheke umfasst inzwischen über 300 Produkte und wird fast täglich länger. Gesamtschweizerisch sind es noch mehr. Man kann die Liste nicht lieferbarer Medikamente hier nachschauen: Drugshortage.ch Herr Martinelli ist Spitalapotheker und betreibt die Seite seit Jahren, unter anderem auch, weil es keine Meldepflicht der Pharmafirmen dafür gibt und keine sonstige zentrale Stelle, die das sammelt. Da sieht es aktuell so aus:

Bei den betroffenen Wirkstoffen ist alles dabei – von Antibiotika über Blutdruckmittel bis zum Zytostatikum. Für die Öffentlichkeit am sichtbarsten wird das momentan bei den Erkältungsmedikamenten, die immer wieder fehlen. Bei Schmerz- und Fiebermitteln (speziell Säfte oder Zäpfchen für Kinder), Nasensprays, Hustenmitteln. Die Schweiz ist ein kleiner Markt und wir haben da meist wenig Ausweichmöglichkeiten. Wenig beruhigend ist es, dass es in Deutschland genau gleich aussieht. Die haben viel mehr an verfügbaren Pharmafirmen und Generika.

An was liegt es?
Die Ursachen sind nicht überall genau gleich. Hier ein paar Erklärungen:

Allgemeiner Grund 1: Es wird fast nichts mehr in Europa produziert. Die allermeisten Wirkstoffe kommen aus Asien (China und Indien). Die Produktion wurde dorthin verlagert, da es billiger ist dort zu produzieren – Arbeitskräfte und auch weil sie weniger Rücksicht auf die Umwelt nehmen. Gibt es bei der Herstellung eines Wirkstoffes ein Problem (Firma brennt ab oder wird überflutet, Arbeiter fallen aus, da krank) wirkt sich das auf weitere Firmen aus, die aus dem Wirkstoff Tabletten / Kapseln / Injektionslösungen etc. machen. Dann fällt oft die ganze Wirkstoffklasse weg.

Ebenso fallen Rückrufe darunter wegen Qualitätsmangel. Es kommt (immer häufiger?) vor, dass wir Rückrufe von Medikamenten haben, weil festgestellt wurde, dass die Firma nicht nach QMS gearbeitet hat / dass (giftige) Stoffe gefunden wurden, die nicht da rein gehören / dass es neu Stabilitätsprobleme gibt / der Wirkstoffgehalt nicht dem deklarierten entspricht … Da fallen dann oft gleich Medikamente von mehreren Firmen weg, weil die alle den Wirkstoff vom selben Ort haben.

Hierunter fallen auch Probleme mit dem Lieferweg. Wenn Covid oder Naturkatastrophen wie Vulkanausbrüche, Tsunami etc. den internationalen Verkehr praktisch lahmlegen, ein Schiff in einem der Haupthandelsrouten für Container feststeckt (Suezkanal), sie Routen wegen Krieg umplanen müssen – dann hat das Auswirkungen auf alles, was da transportiert wird. Auch Medikamente.

Allgemeiner Grund 2: Medikamente müssen bestellt und dann produziert werden. Das braucht Zeit, deshalb werden sie etwa 1 Jahr vorher bestellt dafür. Impfstoffe wäre ein klassisches Beispiel, aber auch Erkältungsprodukte. Für manches wird die Herstellerfirma vielleicht überrascht durch eine vermehrte Nachfrage. In Deutschland kommt dazu noch das Problem der Rabattverträge: Wenn die Krankenkassen mit den Formen Ausschreibungen veranstalten, welches Medikament sie (möglichst günstig) übernehmen, dann werden die Verlierer-firmen das natürlich nicht mehr in so grossen Mengen herstellen. Wenn die Gewinner-firma dann nicht mehr liefern kann wegen unerwarteter Nachfrage (kommt häufiger vor), ist das Medikament halt gar nicht mehr erhältlich.
In der Schweiz haben wir eher das Problem, dass manche Medikamente tatsächlich so billig werden (hier!) dass es sich für die Firmen nicht lohnt, das im Vertrieb zu halten. Die gehen dann „ausser Handel“ – neustes Beispiel: Digoxin. Das mag mit auch ein Grund sein, dass es bei uns weniger Generika gibt als in anderen Ländern. Muss alles ja auch zugelassen werden (kostet), abgepackt mit speziellen Vorschriften (Beipackzettel in 3 Landessprachen) …

Ein paar Beispiele ohne Namensnennung
– denn das führt nur dazu, dass wir in der Apotheke überrannt werden:

Wichtiges Medikament gegen Diabetes. Es wird aber Off-label (ausserhalb der Packungsbeilage) auch als Mittel zum Abnehmen verwendet. Dann wird es zwar nicht von der Krankenkasse übernommen (wenn die das merken) und muss selber bezahlt werden. Die Nachfrage ist riesig, so dass es inzwischen schon 2x dann über Wochen nicht mehr erhältlich war.

Freiverkäufliches Mittel bei Durchfall bei Kindern. Es wird auf Tik tok gehypt als Mittel gegen den Kater nach Alkoholmissbrauch und in der Folge dermassen häufig verlangt, dass für die Kinder nichts mehr übrig bleibt.

Mittel gegen stabile Angina Pectoris. Einiges ging vor Jahren ausser Handel, es sind hier in der Schweiz sowieso nur noch die retardierten Tabletten erhältlich und auch nur noch von 2 Firmen. Von einem Tag auf den anderen nicht mehr erhältlich (ohne Angabe eines Grundes). Kein Generikum, es ist nicht einmal mehr via Deutschland zu besorgen – da es dort auch fehlt.

Starke rezeptpflichtige Schmerzmittel. Die nicht zu haben oder bestellen zu können, ist wirklich katastrophal. Momentan pflästerlen wir da mit Lieferungen, die wir aus der Reserve des Bundes erhalten. Ich hoffe, die hält noch etwas.

Was machen wir in der Apotheke damit?
Einen schlechten Eindruck erst Mal… auch wenn wir nur der Überbringer der schlechten Nachrichten sind.

Lieferengpässe und nicht lieferbare Medikamente bereiten uns sehr viel Mehrarbeit! Das fängt schon damit an, dass wir, wenn wir etwas nicht an Lager haben bei jetzt allem, was wir für den Patienten bestellen müssen gleich nachschauen gehen, ob es lieferbar ist. Das sind zwar nur ein paar Klicks am Computer und etwas Zeit und sicher besser, als dem später nachrennen zu müssen und den Patienten zu informieren, aber das läppert, da: jedes einzelne Medikament!

Das Medikament ist nicht lieferbar. Dann fängt es an:

Kann ich es mit etwas ersetzen? Etwas gleichwertigem / ein Generikum? Vorwiegend etwas, das ich an Lager habe?
Wenn nicht an Lager: Ist es bei einem anderen Lieferanten / Grossisten bestellbar?
Wenn auch nicht bestellbar: Hat es eine andere Apotheke noch an Lager? – Ich kann das nur für die Apotheken derselben Kette nachsehen. Ich kann das nicht sehen für andere Apotheken – da müsste einzeln abtelefoniert werden.
Wenn auch keine Apotheke das mehr hat: Geht vielleicht eine andere galenische Form? (Zum Beispiel Tabletten statt Flüssig, unretardiert mit anderem Einnahmeintervall…)
Wenn auch so nicht ersetzbar: Kann ich das vielleicht aus Deutschland importieren? Die Krankenkasse muss es dann dem Patienten nicht mehr bezahlen, aber das ist dann ein anderes / nächstes Problem.
Wenn auch nicht importierbar: Kann ich das durch einen anderen Wirkstoff ersetzen? Die Umstellung der Therapie muss allerdings durch den Arzt erfolgen – also muss da Rücksprache gehalten werden.

Wenn wir bis dahin eskaliert haben, ist Ende Fahnenstange. Und die ist leider jetzt schon häufiger erreicht, als mir lieb ist.

Aktuell ist es so, dass ich bei etwa jedem 10. Medikament (oder jedem 3. Patienten) etwas nicht so „einfach abgeben“ kann, sondern ersetzen, nachschauen, abklären muss.
Mangelverwaltung nenne ich das.

Und es wird immer schlimmer.

14 Kommentare zu „Lieferengpässe – wenn Medikamente Mangelware werden

  1. Der Wegfall von Digoxin ist wirklich sehr ärgerlich, da ses keinerlei Alternative gibt.

    Und noch ein Medikament, welches mir schon seit einem Jahr extrem fehlt – der Marktführer für die arzneimittelgestützte Raucherentwöhnung.

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    1. Wo kämen wir da hin, wenn ichs nicht direkt besser wissen würde, solange ich Deutschland auf die Schweiz übertragen darf:
      Weggefallen ist bei uns nur Digimerck Wirkstoff Digitoxin. Digitoxin wird trotzdem noch vertrieben von Ratiopharm unter Digitoxin AWD 0,07mg. Digoxin (Lanicor) gibt es seit jeher ohne Einschränkung. Um dazu die DAZ zu zitieren:
      „Aus Amerika kam die Empfehlung, auf Digoxin umzusteigen, das eine wesentlich kürzere Halbwertszeit hat und damit besser steuerbar ist. Digoxin ist nach wie vor im angelsächsischen Raum weit verbreitet und hat bis heute die deutlich umfangreichere Datenlage vorzuweisen. “ (DAZ 33/2022)
      und
      „Es gibt unter Experten durchaus die Meinung, dass die Geschichte der Herzglykoside anders verlaufen wäre, wenn man sich mehr um Digitoxin bemüht hätte. Das will man mit der ­DIGIT-HF-Studie nun nachholen (www.digit-hf.de).“ (DAZ 33/2022)

      Mal schauen wo die Reise mit Digitoxin hingeht.

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      1. @ Hans Olo:

        „solange ich Deutschland auf die Schweiz übertragen darf“

        Genau das kannst Du in diesem Fall aber nicht.

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      2. Wenn ich mal korrigieren darf: Digoxin (Lanicor) gibt es [in Deutschland] seit jeher ohne Einschränkung.
        Nö. zur Zeit nur noch (teilweise) in Ampullenform lieferbar. Tabletten sind derzeit nicht zu bekommen. Die Alternative „Lenoxin“ ist seit September 2022 als „Außer Vertrieb“ gemeldet, war aber vorher auch schon nicht mehr zu bekommen, wenn ich mich recht entsinne.

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          1. Sanacorp. AHD. GEHE. Komisch. JETZT sind auch die Tabletten (teilweise) verfügbar. Gesetern nachmittag war ausschließlich die Injektionslösung (im Verbund) lieferbar…

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    2. „der Marktführer für die arzneimittelgestützte Raucherentwöhnung“ – von dem sie just dann einen Chargenrückruf und danach die Nicht-Lieferbarkeit hatten, als das Ding in die Liste B+ gerutscht ist … und wir das ohne Rezept hätten abgeben dürfen. Ja. Ist mistig.

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      1. Besonders mistig war bei mir, dass mir der Lieferstop mitten in laufende Entwöhnungstherapien gegrätscht ist. Da hatten die Patient*innen und ich so richtig Spass.

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  2. Hurra! Wir stehen erst am Anfang der Infektsaison, aber schon jetzt vermelden mehrere Hersteller, dass bei Ihnen ACC bis Mitte/Ende Februar nicht mehr lieferbar ist.

    Die hohe Nachfrage kam ja auch sooo unerwartet…

    Ach ja, ein kleiner fun fact am Rande: in Düütschland hat der dortige Präsident der Bundesärztekammer vorgestern ernsthaft vorgeschlagen, den Medikamentenengpässen durch das Abhalten von Medikamenten-Flohmärkten (!) in der Nachbarschaft zu begegnen. Man könne dabei auch problemlos Medikamente, die bis zu 1 Jahr abgelaufen sind, weitergeben, die seien ja meistens noch gut.

    Kopf auf Tisch!

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    1. ACC jetzt also auch bald? Wir sind bald beim Kräuter sammeln für Tee im Wald …

      Die Idee des Präsidenten der Bundesärztekammer wurde ja breit in den Medien gebracht – ein gutes hat der Dummfug allerdings: es kommen Stimmen von allen Seiten des Gesundheitssystems, dass das eine ganz schlechte Idee ist. Da zeigen sich Ärzte, Apotheker, Pflegepersonal etc. mal richtig vereint.

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  3. Der nächste Ausfall eines Erkältungsmedikaments steht unmittelbar bevor: an Dextromethorphanhaltigen Hustensirups sind derzeit in der Schweiz nur noch „Calmerphan“ und „Calmesin“ herstellerseitig lieferbar. Und selbst da gehen die Vorräte laut unserem Grossisten bald zur Neige.

    Jaja, die Erkältungssaison kam ja sooo überraschend…

    Wie sollen die Kids denn jetzt den düsteren Winter ohne ihren psychedelischen Hustensaft überstehen?!?

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  4. Durch die Medien geistert seit etwa 2 Wochen ein bevorstehender Lieferausfall bei Methadon. Dieser wäre für tausende Substitutionspatient*innen in der Schweiz eine echte Katastrophe. Denn mal eben auf andere Präparate (e.g. „Sevre long“) umzustellen, funktioniert nicht so einfach (glaubt mir, ich habe da Erfahrung!). Abgesehen davon würde dann mutmasslich bei diesen Präparaten genausoschnell ein Engpass drohen.

    Und Betäubungsmittel lassen sich nicht auch – wie „gewöhnliche“ Medikamente – im Notfall schnell mal im Ausland besorgen.

    Ich denke daher seit ein paar Tagen verschärft darüber nach, für unsere 3 Methadon-Patient*innen einen 3-Monats-Vorrat anzulegen. Nicht nur für den einen, der seine Ration wöchentlich in unserer Praxis bezieht, sondern auch für die anderen 2, die gar nicht bei uns, sondern normalerweise in einer Apotheke beziehen. Einfach zur Sicherheit.

    Keine Ahnung, ob ich mir da rechtlichen Ärger einhandle (immerhin würde ich 12.74g Methadon in Tablettenform und 10.92g in flüssiger Form einlagern – zusammen fast 24g!), aber da geht bei mir der Schutz der Patient*innen diesmal vor Eigen-Absicherung. Ein Szenario wie das aktuelle habe ich jedenfalls in 24 Jahren Arbeit mit Suchtkranken noch nicht erlebt.

    Und ja: mir ist bewusst, dass dieses Hamstern die Lage eher weiter verschärft. Aber was wäre denn die Alternative? Darauf verlassen, dass sich im Ernstfall hoffentlich eine Lösung finden wird? Denn falls das nicht klappt, werden Menschen, die seit (teilweise vielen) Jahren ihren Heroin-Missbrauch hinter sich haben und mit der Substitution ein stabiles Privat- und Berufsleben führen, möglicherweise gezwungen sein, sich illegal Ersatz zu besorgen. Und unter Umständen dann wieder ins Millieu abrutschen.

    (Nebenbei: der drohende Engpass war bislang noch gar nicht Thema in unserer Praxis; die Gedanken mache ich mir im Augenblick noch ganz alleine.)

    Wie denkt Ihr darüber?

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