Der stille Skandal um günstige Medikamente

Irgendwie warte ich immer noch auf den öffentlichen, europaweiten Aufschrei. Aber bis jetzt ist die Medienlandschaft erstaunlich ruhig und die allgemeine Bevölkerung scheint das bis auf ein paar Ausnahmen gar nicht richtig mitbekommen zu haben. Ihr erinnert Euch vielleicht noch, dass ich schon etwas über den Valsartan Rückruf gebloggt habe? Inzwischen ist etwas mehr bekannt. Nur … hört man kaum etwas davon.

Das mag damit zusammenhängen, dass der Rückruf offiziell nur auf Stufe Detailhandel erfolgte und nicht auf Stufe Patient. Damit ist er nur einer unter vielen – und auch die Begründung des offiziell „vorsorglichen“ Rückrufs war nicht besonders ungewöhnlich: „eine mögliche, produktionsbedingte Verunreinigung des eingesetzten Wirkstoffes“.

Da es mit dem aktuellen Wissensstand (wir reden hier noch von möglicher Verunreinigung in unbekannter Menge und unbekannter Wirkung) schädlicher wäre den Blutdrucksenker abzusetzen, sollen die Patienten ihn weiter nehmen, respektive vor einem Wechsel den Arzt aufsuchen. Sie werden nicht informiert.

Mehr Informationen tauchen im Internet auf, vor allem auf deutscher Seite: Bei der Verunreinigung handelt es sich um das krebserregende N-Nitrosodimethylamin (NDMA). Alle betroffenen Medikamente enthalten Valsartan aus der Produktion von einem chinesischen Hersteller (Zhejiang Huahai Pharmaceutical).

Patienten die in die Apotheke kamen, die das mit dem Rückruf in der Presse gelesen haben, konnten wir teils beruhigen, da sie einen der nicht-betroffenen Medikamente hatten und andererseits bei Sorge schon umstellen. Praktischerweise haben wir bei uns in der Apotheke nur wenige Betroffene, da wir vorher schon die Generika abgegeben / an Lager hatten, die die Verunreinigung nicht enthalten. Trotzdem habe ich unser Lager mit den noch lieferbaren aufgestockt.

Vereinzelt hatten wir Leute, die ausgerufen haben von wegen: „So chinesischen Dreck will ich nicht fressen“ und: „Ich will nur noch Medikamente aus der Schweiz“ …. so sehr ich das verstehen kann – das wird schwierig bis unmöglich. Heute werden eine Menge der Medikamente im Ausland hergestellt – und die Wirkstoffe dafür kommen häufig aus Asien. Sie werden nicht mehr hier hergestellt aus Kostengründen. Und die Produktionswege sind selbst für die Apotheken nicht einsichtbar. Wir haben in der Schweiz eigentlich sehr gute Kontrollen: bei der Swissmedic müssen alle Medikamente angemeldet werden, Studien gebracht, die auch zeigen, wie sie hergestellt werden: die Synthesewege, die Qualitätskontrollen, die Bioverfügbarkeitsvergleiche und -Kontrollen bei Generika. Gelegentliche Überprüfungen im Herstellungsland und der Tabletten selber … was dann zu Rückrufen führen kann. All das – und dann kommt der Valsartan Rückruf.

Mehr Informationen dazu werden öffentlich. Die Verunreinigung kam wegen einer Änderung des Syntheseweges schon 2012 in den Wirkstoff. Entdeckt wurde das erst jetzt – durch Zufall. Synthesewege von Wirkstoffen haben mit dem Patent zu tun – das hätte gemeldet und auch kontrolliert werden müssen … Irgendwie ist das nicht geschehen.

Während die Schweizer aktuell offenbar noch am Abklären sind, wieviel Verunreinigung da drin ist und was das für Auswirkungen haben kann, ist in Deutschland inzwischen bekannt: Eine Tablette enthält zwischen 3,7 µg und 22,0 µg NDMA. Zum Vergleich: Die tägliche Aufnahme via Nahrung (Pökelfleisch, Bier) beträgt ca. 0,3 µg, mit Rauchen von 20 Zigaretten steigt das auf 85 µg pro Tag. Das ist also nicht ganz unerheblich. Wieviel in einer Tablette drin sein kann hängt davon ab, wieviel Wirkstoff sie enthält: Je mehr Valsartan, desto mehr Verunreinigung.

Bei 40% betroffene Valsartan-Medikamente, kann man darauf ausgehen, dass Europaweit mehrere Hundert-tausende Patienten das genotoxische Mittel eingenommen haben – und noch einnehmen. Das ist nicht (mehr) zu ändern und Panikmache keine Option. Die Nutzen-Risiko-Abklärung spricht immer noch gegen ein abruptes Absetzen. Mag sein, dass es deshalb (immer noch) so ruhig ist um das Ganze. Dennoch … immer noch kein Rückruf auf Patientenebene und irgendwie erstaunlich wenig öffentliche Diskussion darüber. Fast zwei Monat später. Natürlich … ein Teil des Problems löst sich von selber: die Patienten, die bisher die verunreinigten Mittel haben und denen sie ausgehen, werden sozusagen automatisch auf ein Generikum (oder das Original) umgestellt … und im Moment sind die noch lieferbar.

Aber man sollte das als Anlass nehmen, die aktuelle Praxis zumindest zu überdenken: Die Auslagerung der Wirkstoffproduktion und Zentralisierung auf (wenige) Firmen in Asien mag zwar günstig (lies: billig) sein, doch sind die Kontrollen in diesen Ländern oft dementsprechend – wie sich auch in dem Fall zeigt. Ausgekommen sind da zum Beispiel fehlende Reinigungsprotokolle, Fälschungen bei den Formularen der Qualitätskontrolle oder der Bioverfügbarkeitsprüfungen (Rambaxy) … Medikamente, die möglicherweise zu wenig Wirkstoff enthielten oder Verunreinigungen wie Glassplitter. Diese Verunreinigung mit NDMA mit geschätzt 1 Krebsfall mehr pro 5000 Patienten die das Valsartan in Höchstdosis eingenommen haben, finde ich aber doch sehr negativ beeindruckend. Inzwischen wurde die Verunreinigung übrigens bei einem weiteren chinesischen Hersteller und einem indischen Hersteller gefunden. Wirklich Einzelfälle kann man das nicht mehr nennen.

Trotzdem bleibt der Aufschrei aus. Sind vordergründig billige Medikamente das wirklich wert? Sollte man da nicht das System … überdenken und die Produktion, auch wenn das dann teurer wird, wieder näher (nach Europa) holen? Aber natürlich: dann wird wieder über die Medikamentenpreise gemeckert.

EU kippt die Preisbindung für rezeptpflichtige Arzneimittel – für ausländische Versandapotheken

Weg mit den Privilegien für Apotheker! Schreibt der Spiegel
Das Ende der Apothekerpreise – titelt die Tagesschau

Was ist passiert?

Apotheken in Deutschland haben eine gesetzliche Preisbindung was die rezeptpflichtigen Medikamente angeht. Wer da Rabatte oder Geschenke dazu anbietet, macht sich strafbar. Damit soll verhindert werden, dass Leute vermehrt Medikamente beziehen, nur um an diese „Geschenke“ zu kommen, seien die jetzt monetär oder selber Produkte.
Ebenso ist den Apotheken verboten Rabatte anzunehmen beim Einkauf der Medikamente – das soll verhindern, dass die Apotheken korrumpiert werden und bei ihren Beratungen dann diese Produkte empfehlen.
Sie dürfen also weder reduziert einkaufen, noch irgendwelche Rabatte anbieten
Die Apotheke (nicht nur in Deutschland) ist zwar ein „Detailhandelsgeschäft“ in privater Hand, aber sehr streng reglementiert durch Gesetze – um die Qualität aufrechtzuerhalten und auch um die Kosten im Gesundheitssystem zu dämpfen.

Seit 2004 ist der Versandhandel mit Medikamenten in Deutschland erlaubt. Dabei hat der Gesetzgeber den Online-Apotheken diverseste Ausnahmen von den Vorschriften, denen die Vor-Ort Apotheke unterliegt eingeräumt. Praktisch gesehen ist der Versand Rosinenpickerei:

Die Versandapotheken (speziell die im Ausland)

  • leisten keinen Nacht- oder Notdienst oder Akutversorgung
  • müssen kein Labor haben um Analysen der Grundsubstanzen zu machen,
  • denn sie machen keine Anfertigung von individuellen Rezepturen,
  • geben keine starken Schmerzmittel ab (was unter das Betäubungsmittelgesetz fällt, darf so nicht verschickt werden),
  • vermieten keine Inhalationsgeräte, Krücken oder Babywaagen,
  • und müssen dafür auch keine teuren „Qualifizierungen“ der Krankenkassen dafür über sich ergehen lassen
  • sie brauchen kein teures Fachpersonal, sondern nur Calldienste
  • haben keine vorgeschriebene Vorratshaltung,
  • haben keine teuren Mieten innerorts,
  • als Apotheken im Ausland zahlen sie keine Sozialabgaben in Deutschland
  • bieten nie so viele familienfreundlichen Arbeitsplätze
  • … und der Staat kassiert bei denen wohl auch nicht die 19% Mehrwertssteuer die in Deutschland bei den Arzneimitteln anfallen.

Und jetzt kommt die EuGH (der Europäische Gerichtshof) und kippt die Preisbindung für Rx Arzneimittel – und erlaubt ausländischen Versandapotheken die Gewährung von Boni auf verschreibungspflichtige Arzneimittel. Die deutsche Preisbindung bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln würde gegen das Unionsrecht verstossen.

Die Begründung dazu liesst sich wie Hohn:

Dass die Arzneimittelpreisverordnung auch für ausländische Apotheken gilt wenn sie Arzneimittel an Kunden in Deutschland versenden, stelle eine nicht gerechtfertigte Beschränkung des freien Warenverkehrs dar. …
Konkret sei es für die ausländischen Apotheken schwerer, weil Versandhandel für sie ein wichtigeres, eventuell sogar das einzige Mittel darstelle, um einen unmittelbaren Zugang zum deutschen Markt zu erhalten. Zudem könne der Preiswettbewerb für Versandapotheken ein wichtigerer Wettbewerbsfaktor sein als für traditionelle Apotheken. Denn diese seien besser in der Lage, Patienten durch Personal vor Ort individuell zu beraten und eine Notfallversorgung mit Arzneimitteln sicherzustellen, so die Richter.

Also grundsätzlich funktioniert das mit den Apotheken vor Ort, aber das diskriminiert offensichtlich die Versandapotheke.
Aber: besser? Da sind Vorschriften, die wie oben geschrieben nur für die ortsansässigen Apotheken gelten! Aufwändig, kostenintensiv … das meiste wollen die Versandapotheken doch gar nicht, selbst wenn sie es könnten, oder müssten wie die hiesigen Apotheken.

Aber es geht noch weiter
Insbesondere sei nicht nachgewiesen worden, inwiefern durch die Festlegung einheitlicher Preise eine bessere geografische Verteilung der traditionellen Apotheken in Deutschland sichergestellt werden könne. Die Richter meinen sogar, dass einige eingereichte Unterlagen im Gegenteil nahelegen, dass mehr Preiswettbewerb unter den Apotheken die gleichmäßige Versorgung mit Arzneimitteln fördern würde. Denn so würden Anreize zur Niederlassung in Gegenden gesetzt, in denen wegen der geringeren Zahl an Apotheken höhere Preise verlangt werden könnten.

Also geben sie hier den Tipp: Apotheken, lasst euch in abgelegenen Gebieten nieder, wo keine anderen Apotheken sind … und erhöht die Preise für die Arzneimittel, bis es sich lohnt. Angebot und Nachfrage spielen lassen!
Dass es dort jetzt schon zunehmend keine Apotheken mehr hat, weil es sich für die Apotheken als unrentabel herausgestellt hat (im jetzigen, streng reglementierten System, wo die Arzneimittelpreise auch deshalb niedrig gehalten werden, damit das Gesundheitssystem nicht belastet wird) ignorieren sie. Genauso, wie es, wenn genug Patienten mit Geiz-ist-geil-Mentalität zu den Rosinenpickern Versandapotheken abwandern hier ganz allgemein noch weniger Apotheken geben wird.

Hauptsache freier Warenverkehr. Eigentlich kann man Arzneimittel nicht mit sonstigen Waren vergleichen, der EuGH tut es aber.
Wer wissen will, wie das mit Angebot und Nachfrage bei den Medikamentenpreisen funktioniert, der schaue mal zu den USA, wie gut das dort geht… es gibt kein Gesundheitssystem, das teurer ist und Pharmafirmen können überrissene Preise für ihre Medis verlangen, darauf haben dann auch die Krankenkassen und Versandapotheken keinen Einfluss mehr.

Die kleinen Apotheken in den ländlichen Gebieten werden zuerst gehen. Dann folgen die mittleren. Überleben werden vielleicht ein paar wenige, die zusätzlich auch hauptsächlich Versandapotheke sind. Erst wenn der Patient nur noch eine Apotheke im Umkreis von 50km hat, merken es wohl auch die letzten, dass das mit dem Bevorteilen der Versandapotheken keine gute Idee war. Wer Zahlen will: Es sind 38’000 Jobs (viele davon von Frauen) die auf dem Spiel stehen!

DocMorris (die ihre Anwälte während der Verhandlung am Gerichtshof hatten) hat bereits reagiert und die Werbung angepasst. Ab sofort gibt es bis zu €12 Bonus pro Kassenrezept.

Eine (grosse) deutsche Versandapotheke reagiert auch schon: sie fordert die Aufhebung der Arzneimittelpreisbindung auch für sich selber: da liegt noch etwas drin! (ja – bei denen vielleicht schon?).

Wie reagieren die deutschen Apotheker?

Sie sind entsetzt von diesem Urteil. Bin ich auch. Und ihr solltet das auch sein! Das Urteil sabotiert de facto das deutsche Gesundheitssystem. Apotheken sind nicht nur Medikamenten-Dispenser, sie sind auch erste Anlaufstelle bei Gesundheitsfragen. (Immer noch) leicht erreichbar und die wohl zugänglichsten Medizinalpersonen. Nimm sie weg und Du hast vielleicht noch die (überlaufenen) Notfallstationen der Spitäler. Die Versandapotheken können nicht die Aufgaben übernehmen, die die Vor-Ort Apotheke täglich leistet. Die haben keinen direkten Kontakt zu den Patienten zu den Menschen hinter der mit Medikamenten zu behandelnden Krankheiten.

Apotheker in Deutschland: steht auf! Ihr müsst den Leuten zeigen, was sie an Euch haben!

  • Erklärt der Öffentlichkeit, weshalb ihr besser seid als die Versandapotheke (siehe oben)!
  • Streikt, dann merken sie vielleicht auch, was passiert wenn ihr nicht mehr da seid (Eine Apotheke auf 50km könnte ja noch „Notdienst“ schieben, dann simuliert man auch schön die eventuelle zukünftige Situation.)
  • Aktiviert eure Verbindungen in die Politik, damit endlich mehr auf die aktuelle Situation der Apotheker aufmerksam werden – viel zu viele in der Öffentlichkeit denken immer noch, dass die Apotheke eine Goldgrube ist. Das ist sie nicht mehr. Schon seit längerem.
  • Ladet sie ein in die Apotheke, zeigt ihnen nicht nur Eure Arbeit, sondern auch Euren Umsatz und wie ihr als Arbeitgeber, Steuerzahler und Leister von Sozialabgaben dem Staat (und damit der Öffentlichkeit) dient.
  • Geht gegen den Versandhandel von Rx-Medikamenten vor. Den kann man nämlich gesetzlich verbieten (im Gegensatz zu den OTC Produkten).
  • Macht Eure Arbeit öffentlich!