Verantwortungsabgabe (nicht ganz freiwillig)

Eine etwas traurige Geschichte.

Dosette finde ich etwas unglaublich praktisches. Nicht, weil ich den Leuten nicht zutrauen würde, ihre Medikamente selber zu verwalten – Dosette kann man übrigens auch gut selber richten – aber bei mehr als 3 oder 4 Medikamenten, die man über den Tag verteilt nehmen muss, würde es auch für mich schwierig werden, da wirklich Einnahme-treu zu bleiben.

In der Apotheke richten wir Dosette für Leute, die damit auch Mühe haben – ab 3 Medikamenten regelmässig pro Woche können wir das der Krankenkasse verrechnen.

Wir haben einer Patientin – einer älteren herzigen, kleinen Dame – nennen wir sie Frau Seniorita – seit Jahren das Dosett gerichtet. Angefangen hat das auf ihren eigenen Wunsch, da sie selber merkte, dass sie immer mehr Mühe bekommt, ihre Medikamente richtig zu nehmen. Kein Wunder, sie hat etwa 8 verschiedene.

Wir haben dann alles eingefädelt und den Arzt kontaktiert, damit er ein Rezept dafür ausstellt und von da an haben wir ihr einmal in der Woche das Dosett vorbereitet.

Sie kam dann auch schön regelmässig – Anfangs beklagte sie sich noch ein bisschen, weil sie sich so „dumm“ vorkäme, da sie die Tabletten nicht mehr selber richtet. Sie ist definitiv nicht „dumm“, sie wird einfach nur auch älter und sie ist jemand, der die Dinge gerne selber in der Hand hat. Aber sie hat sich dann daran gewöhnt und ist immer offensichtlich gerne in die Apotheke gekommen um das Dosett abzuholen und ein bisschen mit uns zu reden.

Über die Zeit hat man schon gemerkt, dass das eine vernünftige Entscheidung war, dass wir ihre Medikamente richten: auch so vergass sie gelegentlich Tabletten, verwechselte Tage, wusste nicht mehr, für was ein Medikament das jetzt war. Noch nicht wirklich etwas tragisches – sie kam regelmässig zu uns und wir sortierten das so gut es ging aus und unterstützten sie dabei. Aber es wurde schlimmer. Der Arzt verschrieb ihr dann ein Mittel gegen Demenz, das wir neu einrichten mussten.

Schliesslich bekam sie eine Haushaltshilfe zur Unterstützung – und die meldete sich kaum eine Woche nach „Dienstantritt“, dass sie das Dosett richten wolle, da sie ja sonst keine Übersicht habe, was Frau Seniorita nehme und ihr ohne das auch nicht sagen könne, dass sie die Tabletten nehmen muss.

Ich fand das dann etwas kurios. Nicht nur, dass wir Frau Seniorita einen Plan mitgegeben haben mit all den Medikamentennamen und wann was im Dosett ist – sie hatten also alle Info – war die Haushilfe jeden Tag bei ihr und hätte so sicher die beste Einsicht, was und ob Frau Seniorita die Medikamente auch genommen hat.

Wir telefonierten ein paar Mal und ich versuchte ihr das so zu erklären, auch dass Frau Seniorita wohl gerne selbständig bleiben möchte und dass ihr regelmässiger Besuch bei uns ihr da doch noch mehr das Gefühl gäbe das zu sein, ausserdem kam sie so etwas raus – Das Abholen war ja auch nie das Problem, mehr dass einzelne Tabletten nicht genommen waren.

Beim nächsten Besuch von Frau Seniorita hörten wir, dass sie etwas niedergeschlagen war – die Haushaltshilfe nahm ihr viel Arbeit ab, was half, aber liess sie fast nichts mehr selber machen. Auch das Dosett abholen war schon ein Thema.

Die Haushilfe blieb hartnäckig. Mir ist schon klar, dass das für sie auch ein Zusatzverdienst ist – Dosette richten kann man auch als Haushaltshilfe verrechnen. Schliesslich überzeugte sie den Arzt davon, dass Frau Seniorita nicht mehr dazu imstande sei, für ihre Medikamente selber zu sorgen, dass sie Anzeichen von Depressionen zeige und praktisch nicht mehr aus dem Haus ginge und sie als Haushaltshilfe von jetzt an auch die Dosette richten sollte, dann hätte sie das alles im Griff – Frau Seniorita wurde nicht mehr dazu befragt.

Also haben wir (widerstrebend und leicht unglücklich) nach Anweisung des Arztes alle Medikamente und Unterlagen dazu weitergegeben. An die Haushaltshilfe, denn Frau Seniorita haben wir seitdem nicht mehr gesehen. Dass sie noch lebt, weiss ich nur, weil die Haushaltshilfe gelegentlich die Medikamente bei uns holt.

Ich finds traurig. Und irgendwie vermisse ich die wöchentlichen kleinen Unterhaltungen mit Frau Seniorita.

24 Kommentare zu „Verantwortungsabgabe (nicht ganz freiwillig)

  1. Ich glaube, wenn man Leuten das Gefühl gibt, gesehen, wahrgenommen, ernstgenommen zu werden über die Rolle als Dienstleistungsempfänger oder Medikamentenabnehmer hinaus, ist das eine großartige Sache. Neben der (natürlich unverzichtbaren) rein technischen Seite der medizinischen Versorgung kann sowas sehr wertvoll sein, gerade wenn das wie hier wohl ziemlich der einzige Kontakt außerhalb der eigenen Wohnung ist, den jemand noch hat.

    So mancher Zeitgenosse hangelt sich von einer derartigen Gelegenheit zur nächsten. Das betrifft nicht nur Alte, sondern auch Kranke und aus irgendwelchen Gründen Vereinsamte. Das muss ein bisschen wie Isolationshaft sein – man saugt jedes bisschen Input auf, das man kriegen kann, weil man sonst kaputtgeht. Der wöchentliche Gang zur Apotheke kann da durchaus der letzte Faden sein, der einen noch bei Verstand hält und wenigstens ein bisschen Lebensfreude gibt. Sowas dann auslaufen zu sehen ist traurig.

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  2. Wie darf ich mir das vorstellen, habt ihr dann für jeden Patienten ein Fach mit seinen Medikamenten, für die er zwar die Rezepte bringt, die Packungen aber bei euch lässt?

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    1. Ich habe für die Patienten, die bei uns ein Dosett richten lassen eine Box, wo ich die Medikamente drin habe – die sie auf Rezept verordnet bekommen. Mit diesen Medikamenten fülle ich die Dosette entsprechend dem Medikationsplan. Etwa Einmal pro Woche kommt der Patient vorbei und holt sein gefülltes Dosett und bringt uns ein leeres zum füllen.

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  3. Ach die arme Frau :(
    Es ist doch schön, wenn so eine ältere Dame wenigstens noch etwas selbst machen kann. Da ist es doch schade, wenn man ihr alles aus der Hand nimmt. Die älteren Herrschaften, auch wenn sie krank sind, wollen doch noch wie erwachsene Menschen und nicht wie Kleinkinder behandelt werden.

    Aber die Frage von Sakasiru würde mich auch interessieren. Wie handhabt ihr das in der Schweiz? Ich kenne das leider nur so, dass jemand in ein Heim fährt und da die Medikamentenstellung überwacht, oder so etwas an exterene Firmen zum verblistern geschickt wird – das aber eben nur für Altenheime im großen Stil.

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    1. Siehe oben.
      Die Frau hat zwar einige Medikamente, ist aber körperlich noch ziemlich fit. Mit dem Gedächtnis geht es langsam abwärts … das ist das Hauptproblem.

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      1. Ich erinnere mich noch gut dran, wie das bei meiner Oma war… nicht schön mit anzusehen, wie sie immer verwirrter wurde und erst recht nicht, als sie selbst noch gemerkt hat, dass es mit dem Gedächtnis bergab geht – vom Ende das Ganzen mal ganz zu schweigen. Sie möcht ich meine verbliebene Oma nicht sehen…

        Das ist ein sehr praktisches System mit den Dosetten bei euch. Fänd ich für einige Patienten bei uns auch ganz gut hin und wieder.

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  4. Wenn die Patienten gerne alles selber machen möchte und nur das abgeben wollte, was sie eben nicht mehr schaffte… und dann die Haushälterin auch die Sachen übernimmt, die die Patienten noch schaffen könnte… dann ist doch klar, das die alte Dame depressiv wird. Kann ich voll verstehen, denn sie übernimmt ja immer weniger „Arbeit“ und hat dann kaum noch was zu tun. Was tragisch ist, denn „Aufgaben im Leben haben“ machen glücklicher, erhöhen die Lebensqualität und stärken den Lebenswillen. Nicht umsonst siechen alte Leute, die kaum noch was dürfen, irgendwann vor sich hin. Hat ja alles keinen Sinn mehr. :(

    Ich hoffe, dass der betreuende Arzt noch erkennt, dass die alte Dame auch ein „Hobby“ braucht. Und wenn es nur das einmalige Abhohlen des Dosiers aus der Apotheke, kleine Einkäufe selbstständig durchführen oder ähnliches ist. Sie muss das ja nicht komplett alleine machen. Die Haushälterin kann sie ja begleiten und so aufpassen, dass alles seinen Weg geht und die alte Dame nicht versehentlich eine Waschmaschine kauft, wo sie doch nur Margarine brauchte. So hat die Patienten was davon – und abrechnen, sprich Geld bekommen, kann man das sicher auch noch.

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    1. Vergessen:

      Das Problem dabei wird allerdings sein:
      Es macht mehr Mühe. Wenn die Haushälterin alles selber macht, dann geht es schneller, einfacher und komfortabler, als wenn sie eine alte Lahmarschtrulla mitschleifen muss, die auch noch mit allen quatscht und hier stehen bleibt und dort stehen bleibt und weiß der Geier. Und diese Mühe wird wahrscheinlich nicht gut genug entlohnt. Das kann ich aus Sicht der Haushälterin durchaus verstehen.
      Aber es vermindert leider die Lebensqualität der Patientin leider drastisch. :/

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      1. Das ist so – es ist einfacher so für die Haushaltshilfe …
        Bisher ist es auch nicht so, dass die Dame Mühe hätte, sich auf der Strasse zurechtzufinden, oder eben bei uns das Dosett alleine abzuholen, aber vielleicht kommt das noch. Ich denke einfach, wenn man anfängt nicht mehr rauszugehen … dann kommt das einiges schneller.

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        1. Eben das. die grauen Zellen wollen halt gefördert werden. Sind sie das nicht, sterben sie eher ab. Und wenn sie erst mal weg sind, kann sie nichts mehr wiederholen. Darum wäre es ja so wichtig, dass die Dame mehr alleine machen kann. :(

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  5. Entweder habe ich gerade ein Déjà-Vu – oder ich täusche mich gewaltig. Ich bin der Meinung, das hast du schon mal berichtet/geschrieben.

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    1. @Katha O. und @ednong: Ich sitze seit einiger Zeit auf der Geschichte … und ich glaube, als ich sie frisch geschrieben habe ist sie rausgegangen versehentlich. Ich wollte das noch nicht (manchmal brauche ich etwas Zeit – vielleicht kommt da ja noch was, vielleicht schreibe ich etwas noch um) und darum habe ich das dort gelöscht. Aber … es könnte sein, dass ich das im Feedreader gelesen habt. Dort löscht es das nicht.

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  6. Das ist sehr traurig und eine der seltsamen Auswüchse von eigentlich sehr positiven Ansätzen der stufenweisen Versorgung von älteren Menschen die in Teilbereichen Hilfe brauchen. Wenn hier möglicherweise sogar finanzielle Interessen der Haushaltshilfe eine Rolle spielen, dann ist das sogar verwerflich.
    Wie sieht das denn rechtlich in der Schweiz aus? Ich bin nicht mehr auf dem neuesten Stand aber Medikamente stellen durch Nichtfachkräfte war in D immer rechtlich schwierig. Aber offenbar sieht das in der Schweiz anders aus. Müssen die Kurse belegen oder ähnliches?
    Außerdem finde ich es problematisch, dass Frau Senorita mehr oder weniger stillschweigend durch Arzt und Haushaltshilfe entmündigt wurde, jedenfalls teilweise. Da ist in D ein Richter vor. Klar, wenn sie sich nicht wehrt oder wehren kann… :-(

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    1. Ich bin sicher, dass die Kurse dafür belegen müssen. Praktisch haben die Haushilfen hier eine Stellung wie eine Krankenschwester … die stellen dann ja auch die Medikamente im Spital (oder?). Rezeptieren tut es der Arzt, die Apotheke gibt sie aus und die Haushaltshilfe (in dem Fall) macht sie dann ins Dosett.

      Ah ja – praktisch entmündigt. Wenn sie sich wehren würde, wäre das vielleicht wirklich ein rechtliches Problem. Aber wenn sie wirklich depressiv ist und Gedächtnisprobleme hat, wie gross ist dann die Chance, dass sie das auch macht?

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      1. Genau das ist ja das Problem. Sie kann sich nicht wirklich wehren dagegen.

        Auch dass sie selbst vermutlich denkt „Die erklären mich eh für Dement und glauben mir nichts“.

        Dabei wäre meiner Ansicht nach es so wichtig dass sie das was sie noch selbst machen kann, auch macht.

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  7. Ich finde den geschilderten Fall sehr schlimm. Gerade bei beginnender Demenz sind Sozialkontakte extrem wichtig. Jeder Sozialkontakt, der wegfällt, verschlimmert die Demenz.

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    1. Genau, je mehr altbekannte Strukturen noch funktionieren umso besser.
      Das Extrem ist das Herausnehmen aus der bekannten Umgebung (also ab ins Heim). Ich habe nur ein paar Jahre im Altenheim als Zivi und neben dem Studium gearbeitet und trotzdem einige Menschen erlebt, die körperlich noch recht fit waren und dann innerlich zerbrochen sind. Bis hin zum raschen Tod, denn der Körper folgt dann ganz schnell dem Geist.
      Das ist eines der traurigsten Erlebnisse, so etwas mitzubekommen. :-(

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  8. Ich bin etwas fassungslos, wenn ich so etwas lese. Gerade in der Phase der beginnenden Demenz waren für meine Mutter die alltäglichen Strukturen und Menschen wichtig. Jede Veränderung ging mit einer großen Verunsicherung einher.

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