„Ensüledigüng“

Ein Gast-Beitrag von Charlin, ihres Zeichens PTA in einer deutschen Apotheke:

Abends spät um Dunkeln lief ich nach der Arbeit hungrig und gestresst heim.

„Ensüledigüng!“ Ein sichtlich aufgebrachter, grimmig dreinschauender ´Türkisch Baba´nebst mitgebrachtem Gorilla schnitten mir den Weg ab, bauten sich vor mir auf, und unterbrachen lauthals die Musik aus meinen Kopfhörern.

„Ensüledigüng,“ er hämmerte an die Glastür der Apotheke vor der er stand, er käme nicht rein.

„Nun, es ist auch fast acht, diese Apotheke hat bereits geschlossen. Aber es gibt Notapotheken…“ 

„Diese Notapotheke!“

„Ja? Sieht mir nicht so aus?“ (Auch hinten war kein Licht.)

Er wedelte mit dem Handy, hier sei die Notapotheke, stehe im Internet. Der Gorilla hatte inzwischen die Nachtklappe entdeckt, und fragte was er tun müsse damit diese auf ginge.

Ich zeigte ihm die Nachtglocke.

Aber da habe er doch schon ganz oft drauf gedrückt?

Ja, aber es sei ja niemand da, der ihm öffnen… Beide zeigten sich wutentbrannt. Scheise Apotheke. Immer die gleiche. Keiner Arbeit.

Ich suchte das (tatsächlich etwas versteckte) Notdienstschild. Am ersten Tag des Wochenplans hatte diese Apotheke tatsächlich Dienst gehabt. In Deutschland dürfen (es gibt auf dem Land Ausnahmen) Notapotheken maximal 20km voneinander entfernt sein. Von der aktuell geöffneten trennten uns vielleicht 7km – und der Rhein.

Mit dem Auto … Nix Auto.

Ohne Auto ist der schnellste Weg zur Bahn laufen, die hoffentlich fährt, fast 45 min zum HBF fahren, umsteigen, die selbe Strecke auf der anderen Rheinseite, Apotheke finden, und zurück. Also mindestens 3h.

„Oh nein, ich muss Frau anrufen. Was sage Frau? Besser ich geh Krankenhaus!“

Krank sah er nicht aus. Er wirkte zunächst erleichtert, dann kamen Zweifel. „Krankenhaus gibt Medizin, ja?“

„Nein, im Krankenhaus erhalten Sie ein Rezept für Medizin, mit dem Sie dann in die nächste Notapotheke gehen.“

„Aber ich brauche Hustensaft gegen Fieber für meine kleine Sohn!“ Baba wurde fast flehend, Gorilla hingegen noch unruhiger.

Der Gorilla bot an SEINE Frau anzurufen, schließlich habe er auch Kinder, und vielleicht wisse seine Frau was zu tun sei. Er zögerte dennoch. Klar. Zwei Patriarchen die heldenhaft die Nacht der einen Familie retten wollen und dabei auf die Hilfe einer fremden und der anderen Frau angewiesen sind? Das kratzt am Stolz. Außerdem liefen vor meinem inneren Auge eine Menge Erinnerungen an Geschichten ab, die ich aufgrund von Unwissen oder Sprachproblemen mit Medikamenten erlebt habe. Das arme Kind.

Ich hatte eine Idee: Ich gab mich als PTA zu erkennen, führte ein Beratungsgespräch durch. Im Background allerdings kein Regal zum Reingreifen, sondern die Hausapotheke der Frau des Gorillas. Am Ende stand Medikation und Dosierung für die Nacht fest, was am nächsten Morgen aus der offenen Apotheke zu holen sei, unter welchen Umständen man zum Arzt gehen solle und welche die Notapotheken der nächsten Nächte sind.

„Ist beste, ist beste!“ Medikament war beste, Lösung war beste, alles war beste.

Als die beiden zum Heim des Gorillas rannten, war ich glücklich. Kein Zeitdruck, keine Verkaufszahlen, keine Diskussion über Apothekenpreise.

Hatten die ein Glück sind sie an fachkundige Hilfe geraten! Das war wirklich das beste, was ihnen in dem Moment passieren konnte … ausser vielleicht noch direkt die richtige Notdienstapotheke zu finden. Super Idee auch, von der schon in der Hausapotheke vorhandenen Mittel auszugehen.

14 Kommentare zu „„Ensüledigüng“

    1. Baba = Papa (für den wirklich typischen Patriarch) und Gorilla als Beschreibung körperlich umm … beeindruckendes Männecken finde ich ziemlich zutreffend und hier auch nicht wirklich beleidigend. Aber, wenn Du das so sehen willst … :-(

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        1. Es wäre sehr verwirrend, sie ständig anders zu nennen.
          Ich mach‘ das übrigens gleich. Der „Typ“ bleibt im ganzen Post ein Typ und wird nicht mal zum Mann oder zum Herrn.

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          1. Mit ein bisschen Sensibilität könnte man z.B. schreiben: „der Begleiter, Typ Gorilla, …“. Ich finde die Geschichte nett, aber ich habe mich auch an den (vielleicht unbewusst aufgerufenen) Klischees gestört.

            Und zu Mr. Gaunt: Türsteher sind in der öffentlichen Wahrnehmung selten sympathisch, und „Gorilla“ ist ein negativ konnotierter Ausdruck („Kraftprotz“, „dumm“, „aggressiv“). Vielleicht hat die Autorin das ganz bewusst so formuliert, um einen Kontrast zur späteren Hilflosigkeit der beiden zu erzeugen.Kann man machen, ist allerdings nicht sehr glücklich, gerade vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Debatten.

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  1. Baba ist türkisch und heisst Papa. Und Gorilla steht herkunftsunabhängig für einen grossen kräftigen – in der Regel männlichen Menschen. Den Ausdruck bekommt jeder zweite Türsteher verpasst.
    Hier in der Geschichte waren wahrscheinlich auch Sprachprobleme mit beteiligt, aber es ist leider ein wachsendes Problem, dass manche Menschen sich zu helfen wissen, wenn sie am Wochenende oder nachts Medikamente oder ärztliche Hilfe brauchen. Im Zweifel gibt es ja die 112 oder man fährt mit dem Schnupfen in das nächste Krankenhaus.
    Was wäre passiert, wenn er auf die Apotheke schimpfend nach Hause gefahren wäre und die Familie das genommen hätte, was der Mama immer so gut hilft? Wie hiess das doch, Aspirin oder so… Hätte eine böse Falle werden können.
    Schön, dass sie an eine pfiffige PTA geraten sind.

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  2. Tatsächlich habe ich auf die Stereotypen zurückgegriffen, um darzustellen, um welche Art der Begegnung es sich hier handelt. Für die meisten Begegnungen ist es nicht wichtig, aus welchem Kulturkreis jemand kommt – für diese schon. Der Vater gehörte zu denen, die einer Frau niemals in die Augen blicken, oder gerne anzweifeln, was die kleine (tatsächlich blauäugige) PTA sagt, weil SIE die Entscheidungen treffen, nicht irgendein Mädchen. Da gibt es nicht viele von, aber es gibt sie und aus Respekt sollte man ihm da auch nicht in die Ehre pieksen. „Baba“ heißt nicht nur Papa, sondern wird auch als ehrfürchtige Anrede verwendet.
    Für mich persönlich offenbarten sich in diesem Erlebnis drei Aspekte, die mich dazu bewogen, das erlebte aufzuschreiben:
    1. Drei Unbekannte aus drei verschiedenen Kulturkreisen (oh ja, „Gorilla“ dürfte niemand einen Türken nennen) taten sich zusammen und begegneten sich auf Augenhöhe. Nicht von Anfang an, aber spätestens nachdem wir uns über unruhige Nächte und kranke Kinder ausgetauscht hatten. Die Einstellung, die hinter deren Wortwahl steckt, lässt vermuten, welche negativen Erfahrungen sie schon gemacht haben. Es gibt immer einen Weg der Kommunikation, man muss es nur wollen und die richtigen Worte finden.
    2. Kritik am System. Ist ja schön, dass es eine 20km – Regel gibt, aber was nutzt die, wenn unter solchen Umständen die 7 km kaum zu überwinden sind? Klar gab es noch eine weitere Notapotheke. Da fährt aber von uns aus nicht mal ein Bus abends in die Nähe der Ortschaft. Für diese beiden, oder ältere Leute, ja sogar für mich wenn ich wirklich krank wäre, wäre die nächste Notapotheke an diesem Tag nicht zu erreichen gewesen. Dazu kommt: Selbst ich musste die Notapothekentafel suchen, und mein Blick ist geschult.
    3. Der dritte Punkt ist sehr persönlich. Ich bin PTA geworden um Menschen zu helfen, nicht um Rezepte zu beliefern. Dort auf der Straße habe ich von meiner Berufung mehr gespürt als das am HV oft der Fall ist.

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    1. Und ich fand das kam (alles) in der Geschichte deutlich raus. Deshalb hat sie mir (und anderen wohl auch) auch so gefallen.
      Das nachher zu erläutern ist ein bisschen, wie wenn man einen Witz erklären muss, aber: Danke!

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  3. Tolle Geschichte. Das mit dem Baba ist doch wirklich nichts beleidigendes. Wäre ich ein Mann und man würde mich mit einem Gorilla vergleichen kann man das auch gut und gerne mal als Kompliment auffassen.
    Gruß,
    Emma

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  4. Auch ich habe diese an sich wichtige und schöne Geschichte als etwas unglücklich formuliert empfunden. Vielleicht kann man sie ja ein bisschen um-schreiben.

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  5. Nun ja, auch mir ist die Wortwahl etwas aufgestoßen. Mag daran liegen, dass man hier, im Ruhrpott, genau solche Umschreibungen wählen würde, um negativ behaftet zu berichten, ohne gleich ausfallend zu werden.
    Den Bericht selbst finde ich aber gut und, bis auf die beiden schon von anderen monierten Begriffe, völlig ok und passend. Und mit der Erklärung dahinter auch nicht im mindesten schlimm. Danke fürs Erzählen. :-)

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